Shuar und Schule (Teil 2)

Bei mir entstand generell der Eindruck, dass die ländliche Bildungseinrichtung Macumas immer etwas vergessen/ vernachlässigt, von Fortschritt und Reform übergangen wurde. Jedoch erreichte ein bildungspolitischer Umschwung der ecuadorianischen Regierung auch Macuma. Das Schulsystem änderte sich vor ca. 10 Jahren. Die Grundbildung galt nach der zehnten Klasse als abgeschlossen und nicht mehr nach der siebten, ebenso wurde die Schulpflicht auf 10 Jahre der  "Educación básica" (Basisbildung) heraufgesetzt. Idee dessen war, eine Schulpflicht zu etablieren, bei der Schüler bis zum 14/15. Lebensjahr eine Schule besuchen. Jene Schulpflicht wird jedoch zumindest in der Dschungelregion, in der ich zur Zeit lebe, nicht durchgesetzt. So traf ich Kinder und Jugendlichr befreundeter Familien, die aus ökonomischen Gründen keine Schule besuchen können. Oft müssen diese einer Vielzahl von Geschwistern den Vortritt lassen, helfen im Haushalt oder "hüten" jüngere Geschwister. Denn auch wenn der Schulzugang an sich kostenlos ist, können andere Kostenfaktoren (Busticket, Material etc.) für Familien - vor allem mit vielen Kindern - nicht stemmbar sein. 
Jedenfalls sah das Bildungsministerium vor, dass örtlich naheliegende Schulen sich zu größeren Bildungseinrichtungen vereinigen sollten. Jahrgänge der Schule "9 de Noviembre" und der heutigen UECIBAS doppelten sich zeitweise, so gab es bei einer Entfernung von 100 Metern je zwei Mal eine achte, neunte und zehnte Klasse. Die Schulen wurden zusammengelegt. Heute beherbergt 9 de Noviembre Kinder bis zur siebten Klasse, bietet aber auch schon die "Educación  inicial" für Kinder im Alter von drei bis vier Jahren, die aber nicht wirklich stark frequentiert wird. Übrigens wird jene Klasse der drei bis vier Jährigen vom einzigen Lehrer geleitet, der kein Shuar ist und täglich mehrere Stunden aus der nächstgrößeren Stadt anreist.
Nach Abschluss der siebten Klasse begeben sich die Schüler auf das Schulgelände der anderen Straßenseite. Die heutige UECIBAS bietet achte, neunte, zehnte Klasse, ebenso, wie schon berichtet, drei Bachilleratokurse. Im prereformierten Schulsystem Macumas betätigten sich die Schüler in Langzeitprojekten, wie der Kultivierung von Nutzpflanzen oder der Zucht/ Haltung von beispielsweise Schweinen und anderen essbaren Konsorten. Jene Langzeitprojekte wurden durch zwei Mal im Jahr wechselnde Projekte ersetzt, die je fünf Monate andauern. In jenen Arbeitsgemeinschaften wird dann, je nach vorhandenen Möglichkeiten, gekocht, gemalt oder auch Theater gespielt. Mit Beginn der Bachilleratokursen (also nach erfolgreichem Abschluss der zehnten Klasse) werden die Projekte dann durch Spezialitäten ersetzt. So sind mittlerweile technische, soziale und wissenschaftliche Ausführungen der Bachilleratokursen vorhanden.
Die UECIBAS (=Unidad Educativa Intercultural Billingüe  Antonio Samaniego) feierte am 2. und 3. Oktober ihr einjähriges Bestehen. Sie ist das Produkt eines langen Transformationsprozesses, zu dem ich hoffentlich einen kleinen Eindruck geben konnte. Die Schule 9 de Noviembre besteht immer noch auf der anderen Straßenseite, gehört offiziell jedoch zur UECIBAS. Diese oferiert derweil auch noch andere Bildungsprogramme. So bietet einer der Englischlehrer, mit dem ich zusammenarbeite, genannt Wilson, jeden Samstag einen Alphabetisierungskurs für ältere Shuar an. Bald soll zudem ein Modul angeboten werden, welches der deutschen Abendschule ähnelt.
Jedoch ist die UECIBAS noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen (dazu mehr im nächsten Beitrag) und sieht sich noch heute mit vielen Problemen konfrontiert. Wie erwähnt gibt es noch immer Kinder und Jugendliche, die nicht zur Schule gehen können. Des weiteren ist die Rolle der Eltern im ecuadorianischen Schulsystem und besonders in Macuma eine andere. Diese werden dazu angehalten ihren Kindern beim Lernen zu helfen, praktisch jede Hausaufgabe soll von einem Elternteil unterschrieben werden. Jene Eltern stehen generell in einem viel engeren Kontakt mit dem Lehrpersonal, als ich es aus Deutschland gewohnt wäre. 

So kann es vorkommen, dass die Mütter der neu-gewählten Schülerregierung (Schülersprecher, Sekretärin und co) ein Essen für die ganze Lehrerschaft zubereitet - und was für eins...!

Jedoch sehen wohl noch immer viele Eltern die Rolle der Schulbildung als eine geringe an, verzichten auf den Kauf von Schulmaterialien und unterstützen die Kinder nicht beim Lernprozess. Andere Probleme stammen von offizieller Seite: Das Schulministerium reicht die Schulbücher mit monatelanger Verspätung ein. Buchseiten könnten als Ersatz kopiert werden, so wie es in den Städten wohl Praxis wäre, doch wer in Macuma sollte dies Zahlen? Im übrigen sind die Schulmaterialien nicht für Kinder einer indigenen Gruppe, die seit Jahrhunderten im Regendwald lebt, ausgerichtet. Als Beispiel: In den Englischlehrbüchern, die an sich schon viel zu anspruchsvoll sind, sollen Schüler über ihre internationalen Lieblingssänger referieren und darlegen, welche individuelle Karriere sie einschlagen wollen. Doch wird vergessen, dass es in Macuma weder Bankkauffrauen, noch Stuntmänner gibt. Natürlich bin ich auch der Meinung, dass die Schüler an eine globalisierte Welt herangeführt und vorbereitet werden müssen, doch ist dies der falsche Weg.

Die oft - und auch von mir selbst - assoziierte Dschungelbuchromantik ist zwar eine schöne Vorstellung, jedoch eine trügerische. Dies ist auf die Schule, wie auch auf andere Lebensbereiche zu beziehen, soll gleichzeitig aber auch nicht alles negativ erscheinen lassen. So empfinde ich das Lernklima als ein gutes, Schüler wirken überwiegend glücklich und die Stimmung im Kollegium ist familiär (was daher kommen könnte, dass viele Lehrer miteinander verwandt sind). Gleichermaßen gibt es auch Negatives. Drogen sollen an der Schule zirkulieren, wie wahrscheinlich an so ziemlich jeder Schule der Welt. Es sind Fälle bekannt, in denen Lehrer sich mit deutlich jüngeren Schülerinnen arrangiert haben, Beziehungen, aus denen auch schon (wahrscheinlich ungewollter) Nachwuchs entstanden ist. Auch kam es letztens vor, dass sich ein Schüler der letzten Schulklasse das Leben nahm. Mehr und weniger schockierende Ereignisse, gegen die teilweise Gegenmaßnahmen ergriffen werden: Das Bildungsministerium hält Vorträge im großen Stil über eine "Null Toleranz-Strategie", Übergriffe von Lehrern auf Schülerinnen sollen unverzüglich gemeldet werden. Gute Sache an sich. Im etwas kleineren Stil halte ich seit vergangenem Freitag Vorträge über den Konsum von Drogen vor jeder Klasse. Warum gerade ich dazu ausgewählt wurde, über Drogen zu referieren bleibt auch mir weiterhin unklar. Der Tod eines Schülers wird jedoch nicht groß erwähnt, von einer Trauerfeier oder ähnlichem ganz zu schweigen. Ein kulturell anderer Umgang mit dem Tod, so wie ich ihn nicht kenne. Ob ich den Schüler persönlich aus dem Unterricht kannte? Schwer zu sagen, jeden Tag habe ich verschiedene Klassen und helfe eben dort, wo gerade Englisch unterrichtet werden soll. Die Namen kenne ich bei weitem noch nicht alle, ein Erinnerungsfoto ist nicht vorhanden. Ob ich den verstorbenen Jungen kannte, der nur ein Jahr jünger als ich war und bereits einen Sohn hatte, werde ich wohl nie herausfinden.